Cover: The Range -- Potential

Eine junge Frau steht im Badezimmer, im Hintergrund glänzt ein grün-blauer Duschvorhang im Neonlicht. Sie lächelt kurz in die Kamera und fängt an zu singen, ein A-capella-Cover eines R'n'B-Hits. Dass sie singen kann, wird sofort klar – trotz des Raumhalls, der von den Fliesen abprallt. Das Video hat die Sängerin auf YouTube hochgeladen, wo Produzent James Hinton alias The Range es findet. Zusammen mit zehn anderen Amateurvideos baut er es in sein neues Album Potential ein – als Testament an alle Neverbeens der YouTube-Welt.

Hintons Quasi-Gastmusiker sind keine Profis. Sie sind gut in dem, was sie tun, und sie machen es mit Leidenschaft. Ihre Videos, die sie auf YouTube hochladen, haben aber oft nur wenige Menschen gesehen – einige hundert, vielleicht ein- bis zweitausend. Es waren spontane Impulse, die sie dazu führten, diese Momentaufnahmen ins Netz zu stellen; Träume und Trauer, Melancholie und Hoffnung – genau diese Menschlichkeit hinter der Fassade faszinierte Hinton. Bereits auf seinem letzten Album Nonfiction hatte er mit dem Konzept gespielt, jetzt lässt Hinton die YouTube-Künstlerinnen und -Künstler mit Namen wie Naturaliss, OphQi und Keyshia Cole seine Songs tragen. Bereits im Opener Regular rappt der Londoner MC SdotStar darüber, dass Musik für ihn alles ist: „Right now, I don't have a backup plan for if I don't make it / But even if / I‘d just decide to move on.“ Unterlegt mit zittriger Perkussion und düsteren Synthies zeugt der Track von Hintons Ursprüngen in elektronischen Gefilden wie Grime und Footwork.

Mit emotionaler Tiefe zimmert Hinton seine elektronische Musik und die YouTube-Freestyles und -A-capellas zusammen – dabei entstehen eigenständige Geschichten, die sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen. In Copper Wire wird der Freestyle-Rap des 13-jährigen Kruddy Zak mit dem herzzerreißenden Gesang von Lisa Bello kombiniert; es ist ein Song über den Tod eines Freundes, den Kruddy Zak hier präsentiert. Hinton hat dabei die Streicher, Pianos und Claps um den Gesang herumgebaut: Tonarten, Tempi und das generelle Feeling eines Songs übernimmt der Produzent vom Ausgangsmaterial. Hinton behält die fragile Menschlichkeit bei, die seine Kollaborateure in ihren Videos präsentieren.

Dabei kommt ein Album zustande, das so unterschiedlich ist wie seine Mitwirkenden: Florida ist ein locker-leichter Popsong mit ganz viel Singlepotential – nicht umsonst war das Lied die erste Auskopplung von Potential. Auf der anderen Seite steht Five Four, gebaut aus Freestyles der Rapper OphQi und Superiour Thought. Der Song ist eine gefährlich klingende Annäherung an die Londoner HipHop-Szene, ohne klassisches Strophe-Refrain-Muster; er kommt in bestimmten Schritten auf den Hörer zu und lässt ihn dann verwundert stehen. Das ist ein Thema, das Hinton, mehr oder weniger bewusst, häufiger durchschimmern lässt: Die Musik baut sich auf, kommt zu keinem wirklichen Höhepunkt und endet dann einfach. Daran muss man sich gewöhnen, wird dann jedoch mit einer sehr außergewöhnlichen Hörerfahrung belohnt.

Das Konzept des Samplings ist kein neues, The Range bringt aber ein gutes Maß Spannung mit rein. Man möchte herausfinden, wer hinter den Vocals steckt, und warum manchmal Störgeräusche in dieser Profi-Produktion zu hören sind. Der nächste Schritt für James Hinton ist die Veröffentlichung einer begleitenden Dokumentation über die YouTuber, die auf seinem Album vertreten sind. Die Menschen, die jetzt nach Jahren einen Platz im Rampenlicht finden, nachdem ihr Webcam-Video in den Tiefen des Internets verschwunden geglaubt war. Die Menschen, die dem Potential gerecht werden, das im Albumtitel steckt. (Sebastian Seifert | Campus FM)

 

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