Albumcover

Im Jahre 2014 brachten Nikolaj Manuel Vonsild (When Saint Go Machine) und Kristian Finne Kristensen (Chorus Grant) unter dem Namen Cancer die EP Ragazzi heraus. Die auf 500 Stück limitierte Schallplatte der EP war sofort ausverkauft, Cancer trafen den Nerv der Melancholie, ohne Mitleid zu fordern. Nun erscheint mit Totem das Debütalbum der beiden Dänen und führt den Ansatz der EP gekonnt weiter.

Der Name kommt nicht von ungefähr: In dem Zeitraum, in dem sich Vonsild und Kristensen kennenlernten, starb ein Elternteil Vonsilds an Krebs. So diente die Musik als Verarbeitung der Trauer und der Wut, ohne dass sich jemand dazu genötigt fühlte, im Selbstmitleid zu versinken. Dazu hatte aber vermutlich auch niemand Zeit, denn die Lieder entstanden zum Großteil in Jamsessions der Band, wie der Opener Esca. Ein paar Ideen wurden live zusammengeworfen und aufgenommen, wie hier etwa der straighte Groove in den Drums und das effektgeladene Gitarrengezupfe. Wie dann der Song tatsächlich enden sollte, wusste während der Aufnahmen keiner – dann nahm der Drummer es aufsich, der den Beat nicht loslassen wollte, und improvisierte einfach selbst einige Takte bis zum Schluss. Manchmal werden Ideen aber auch zwischen Kontinenten hin und her geschickt und anschließend zu Ende gebaut. So entstand das höchst emotionale Die One More Time, ein Song über die lähmende Trauer, die man schlichtweg nicht nach außen hin kommunizieren kann. Vonsilds Stimme ist eine der einzigartigsten, die derzeit im Indiegenre zu hören ist, doch hier vermittelt sein zitterndes Falsett eine Schwäche kurz vor dem Untergang, die Stimme eines gebrochenen Menschens: “Each time I wake up / I die one more time” – da ist es schwer, nicht sofort mitzutrauern.

Doch neben Verlust, Trauer und dem gebrochenen Herzen ist es der Band wichtig, dass auf Totem nicht nur die Schattenseiten gezeigt werden – hier soll es auch um die Liebe und die Unterstützung von Freunden und Familie gehen, die während dieser dunklen Momente überwiegen. Cancer entziehen sich mit ihrer Musik gekonnt den Schubladen: Es gibt Momente des Indierocks, wenn die Drums vertrackt umhertrommeln; manchmal hört man poppige Gitarrenriffs wie beim zerbrechlichen Animals. Trotzdem lassen sich die über weite Strecken spärlich und dezent arrangierten Songs lassen einordnen. Immerhin: Die himmlisch mäandernde Gitarre von Kristensen zieht sich wie ein roter Faden durch das Album und beendet es mit This Is Where It Hurts, das sich wie aus Protest zum Ende hin noch einmal hoffnungsvoll aufbäumt. 

Mit Totem veröffentlichen Cancer ein traurig-schönes Album über die Dinge, die uns in unserer Menschlichkeit am meisten Angst einjagen. Es ist hinreißend genug, dass man sich am Ende eines miesen Tages darin verlieren kann – weil es im Kern immer noch menschlich genug ist. Hier findet keine Romantisierung tragischer Ereignisse statt, stattdessen findet man sich in den Liedern erschreckend oft selbst wieder, etwa wenn Vonsild im Opener wiederholt ausruft: “Say you’ll love me again! Am Ende des Albums siegt dann doch die Hoffnung und die Erkenntnis, dass Cancer ein kleines Meisterwerk der Melancholie hervorgebracht haben.

(Sebastian Seifert, CampusFM)

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