Cover: Mueller_Roedelius - Imagori

Ambient-Musik – dabei denken die meisten wohl an Klangcluster, aufgenommen mit Mikrophonen, bestehend aus Sounds in der Umgebung  und der Natur. Große Namen wie Brian Eno, Conrad Schnitzler und nicht zuletzt auch Hans-Joachim Roedelius prägen das Bild des ambient-affinen Fans, der seine musikalischen Hochzeiten in den 70er und 80er Jahren feierte und vor allem (er)lebte. Das Ambiente einfangen und auf sich wirken lassen, so könnte man das ganze umschreiben. Der Beat steht im Hintergrund, sphärische Klänge dominieren. Was gibt es noch Neues zu dieser Musikrichtung zu sagen? Fast könnte man meinen, ein Kapitel der Musikgeschichte allmählich schließen zu können, da sich die Sternstunden des Genres einhergehend mit dem Lebensgefühl, in heutigen Abklatschen allenfalls im Mainstream verloren zu haben scheinen.

Dass dies allerdings etwas zu kurz gedacht ist, beweist aktuell Hans-Joachim Roedelius – also ein wahres Urgestein der ersten Ambient-Stunde – mit seinem Kollaborationswerk „Imagori“, das er zusammen mit Musikerkollegen und Mitbegründer von Gotan-Project, nämlich Christoph H.Müller erschaffen hat. Müller, der in seiner Musik den Elektro-Tango verarbeitet, bricht so mit den Konventionen des Ambient-Regelwerks und versorgt Roedelius mit Beatstrukturen in seinen vornehmend der Klaviermusik zugewandten Tracks.

Mit „Time Has Come“ steht nun der verheißungsvolle Album-Opener. Roedelius setzt mit breiten Klavierakkorden ein, die begleitet werden von elektronischen Geräuschen, die sich anhören wie das Kratzen auf einer Schallplatte. Nach einer kürzeren Passage setzt dann eine gewaltige Base-Drum ein, die einen rhythmischen Beat unter die Akkordabfolge legt. Konzeptkunst ist hier das Stichwort: Diese Musik lässt sich auch bei einer Ausstellung großer Kunst in einem renommierten Museum dieser Welt vorstellen. Nach einer längeren Passage setzen dann Synthesizer verschiedene Akzente; das breite Klavierbett bleibt, tritt jedoch unter den Beatstrukturen etwas in den Hintergrund. Zum Ende des Tracks wispert eine Männerstimme wiederholend den Titel „Time Has Come“ und beendet somit den Album-Auftakt.

„Imagori“, der Titel der aktuellen Scheibe, ist gleichzeitig ein Anagramm des Wortes Origami und so verwundert es auch nicht weiter, dass gleich zwei Titel von Roedelius und Müller diesen Namen tragen. Unkonventionell hieran ist, dass der zweite Teil als dritter Track der Scheibe dem anderen - ersten -  vorangeht. Ein Stück Eigentümlichkeit, das so typisch wirkt in diesem Musikgenre, dem keine Grenzen gesetzt sind. Auch bei „Origami II“ beginnt zunächst Roedelius mit kraftvollen Akkorden auf seinem Flügel. Müller verklärt die Szenerie dann mit einem Glockenspiel-ähnlichen Instrument, das die Rhythmik des Stückes zu entfalten scheint. Dies macht beim Titel „Origami“ auch noch deduktiv Sinn, beschreibt das Wort Origami bekanntermaßen nichts anderes als die Kunst des Faltens. Wabernd und zugleich dynamisch legen sich schließlich Bassstrukturen über das Ganze und verkörpern die dem Album immanente Kraft. 

Hier hört sich nichts nach billigen Soundeffekten an, die zu allem Überfluss auch noch schlecht abgemischt sind. „Imagori“ hat in seiner Produktion bereits eine gewisse Wertigkeit und ist somit als musikalisches Kunstprojekt „galerietauglich“. Das Piano ist ein echter Flügel, und soweit es geht, setzen die beiden auf analoge Musikproduktion mit aufwendigen Mitteln. Dies wird nicht zuletzt der langjährigen Erfahrung beider Musiker im Tagesgeschäft liegen. Roedelius ist mit seinen nunmehr 81 Jahren nicht nur im Hinblick auf sein Schaffen ein echtes musikalisches Urgestein. Seine Musik ist jedoch keineswegs abgedroschen oder gar langweilig. Im Gegenteil: die jüngeren Generationen können von der Leichtigkeit und der dem Abwechslungsreichtum einiges lernen. Dies beantwortet schließlich auch die anfängliche Frage nach der Aktualität von Ambient-Musik. Das Genre erfährt durch Alben wie „Imagori“ einen erneuten Aufschwung und es lohnt sich, vergessene Schätze aus den Plattenkisten zu kramen - auf den Spuren nach Ambient, auf den Spuren nach Roedelius. (Julian Minor | CT das radio)

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