Ed Tullett - Fiancé

Wie wandelbar sich Musikschaffende doch immer wieder zeigen. Vor fünf Jahren machte Ed Tullett  auf Never Joy die einsame Geborgenheit und Zurückgezogenheit seines Schlafzimmers, in dem er die Songs aufgenommen hatte, hörbar. Silver Drive war damals die Singleauskopplung, aber unter Songs wie Thaw, Teeth, Ribboned Blood, OD und Mezzanine nur eines von vielen Glanzstücken. Es folgte eine weitere Single, die so depressiv und sehnsüchtig klang wie sonst nur Active Child, Half Moon Run oder Daughter zu Zeiten ihrer ersten, akustischen EPs. Noch mehr Moll als bei Oxblood ging wirklich nicht.

Kurzzeitig erinnert Irredeemer noch an diese Zeiten, als Tullett wunderschönen Indie-Folk-Pop machte und sein Debütalbum Never Joy in Eigenregie über Bandcamp vertrieb. Musikalisch auffällig ist im Opener des neuen Albums Fiancé erst einmal nur die elektronisch verzerrte Stimme und Klänge aus dem Synthesizer, mit dem die Gitarrenmelodie untermalt ist. Im letzten Songdrittel steigt die Klangdichte und -intensität deutlich, gelayerte Vocals schichten sich über den Klangteppich und die Gitarrenanschläge.

Malignant kehrt den Spieß um. Der Gesang ist naturbelassen, stattdessen flickern hektische Synthies im Hintergrund. In Sachen Opulenz und Dramatik heben Drums und infernale elektronische Orgelsounds den Song auf ein neues Level, während Tullett ins Falsett wechselt. Mit Lichteffekten im Takt des Songs und düsterer „Story“ ist das dazugehörige Musikvideo die perfekte In-Szene-Setzung der Soundästhetik, die zwischen zurückgenommeren Zwischenpartien und hochtrabendem Refrain changiert. Lediglich das Hintergrundflickern zieht sich mit kurzen Unterbrechungen von Anfang bis Ende durch die Musik.

Überraschend kommt dieser neue Sound nicht, vielmehr war er nach dem letzten musikalischen Zeichen Tulletts durchaus zu erwarten. Nach einer letzten akustischen EP (Trawl) legte er gemeinsam mit seiner musikalischen Komplizin Ffion Atkinson, die schon auf Never Joy zu hören war, und Calvin Emerson bereits 2013 als TWYNS die Gitarre ebenso beseite wie das Folk-Songwriting und schwenkte stattdessen um auf digitale Sounds und Stimmverzerrung. Nur die Haltung blieb: melancholische Nostalgie und feierlich kultivierte Verzweiflung.

Anfangs wechseln sich synthetisch intrumentierte und vornehmlich folk-fixierte Songs auf Fiancé mit schöner Regelmäßigkeit ab. Zwsichen Malignant und das ruhige, an Tulletts Zeiten mit TWYNS erinnernde Canyine schiebt sich Posturer mit verträumten Klangwellen und gezupften Gitarrenlinien. Die gelayerte Kopfstimme trifft sicherlich nicht jeden Musikgeschmack, ist für die Stimmung der Musik aber unverzichtbar, weil sich Sehnsucht und Seelenschmerz erst durch die Ausflüge in hohe Lagen richtig entfalten. Beizeitien wird Tulletts Gesang etwas zu jammernd (Saint), was aber auch der unruhigen, überladenen Instrumentierung des Songs geschuldet ist.

Besser steht es Tullett nach wie vor, wenn er sich nicht gegen ein Heer aus Tonspuren durchsetzen muss, sondern wie bei Are You Real und zu Beginn von Ply oder Kadabre lediglich ruhig und minimalistisch begleitet wird. Das Verschwinden in der Musik ist sicherlich nicht unintendiert, aber als stilistisches Mittel doch irgendwie gewöhnungsbedürftig, insbesondere mit Ed Tulletts früheren, ruhigen Folksongs im Hinterkopf. Insgesamt braucht Fiancé in jedem Fall mehrere Anläufe, um wirklich zugänglich zu werden. Aber dann erschließen sich nach und nach die vielen Details und Nuancen dieser musikalischen Neuerfindung.

(Benedict Weskott | CT das radio)

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